Amnesty-Filmpreis verliehen auf der Berlinale 2023

Bei der diesjährigen Berlinale gewann ein beklemmendes Familiendrama aus dem Jemen den Filmpreis von Amnesty International.

Von Jürgen Kiontke

Regisseur Amr Gamal war sichtlich bewegt, als er bei der Berlinale im Februar den mit 5.000 Euro dotierten Amnesty-Filmpreis erhielt. Sein Familiendrama “Al Murhaqoon” (Die Beladenen) ist der erste Langfilm aus dem Jemen, der je zur Berlinale eingeladen wurde. Die Amnesty-Jury würdigte insbesondere die Bedingungen, unter denen der Film in der jemenitischen Stadt Aden entstand: Inmitten eines von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommenen Krieges thematisiert er kontroverse Themen wie Religion, Abtreibungsverbot und Armut. Die Dreharbeiten waren geprägt von unberechenbaren Militärkontrollen, Stromausfällen und Wassermangel. Im Alltag in Aden sei nichts sicher, sagte Gamal, der aus der dortigen Theaterszene stammt, dem Amnesty Journal.

In “Al Murhaqoon” muss die junge ­Isra’a mit ihrem Mann Ahmed und ihren drei Kindern den schwierigen Alltag meistern, der vom Krieg geprägt ist. Ahmed versucht, die Familie mit Fahrerjobs über Wasser zu halten. Doch ein unachtsam zurücksetzender Militärtransporter ramponiert seinen Wagen, und die Fahrgäste streiten um die Bezahlung – mit vorgehaltener Waffe. Dann wird Isra’a wieder schwanger. Ein weiteres Kind würde die Familie endgültig in die Armut treiben. Das Paar entscheidet sich daher für eine Abtreibung. Es folgt eine Odyssee durch die von rigiden islamischen Regeln bestimmten Verhältnisse: angefangen von Nachbarinnen, die als “Engelmacherinnen” illegale Abtreibungen in der Küche vornehmen, bis hin zu Krankenhäusern, in denen Behandlungen von der Laune und dem Geldbedarf des diensthabenden Arztes abhängen. Die Geschichte von Isra’a und Ahmed ist an einen realen Fall angelehnt. Die Schauspieler*innen überzeugen in ihren Rollen, vor allem die drei Kinderdarsteller*innen. Mit spielerischem Gemüt unterlaufen sie die rigiden Regeln der Erwachsenenwelt.

Der Film erzähle “ohne Zeigefinger und mit großer Eleganz eine Geschichte von humanistischen Werten wie Community, Familie, Zusammenhalt und vor allem auch Bildung”, begründete die Jury ihre Entscheidung. Er zeige, wie man Hoffnung und Zuversicht bewahrt, “in einer Welt, die Eltern alles abverlangt, um den eigenen Kindern Mut und Zutrauen, aber auch einfach Essen, ein Dach über dem Kopf und Bildung geben zu können”.

Seit 2005 zeichnet Amnesty International bei jeder Berlinale einen Film aus, dem es gelingt, das Thema Menschenrechte überzeugend darzustellen. In diesem Jahr bildeten der Generalsekretär von Amnesty Deutschland, Markus N. Beeko, die Schauspielerin Lea van Acken und der Regisseur Burhan Qurbani die Jury, die aus 20 nominierten Werken den Gewinnerfilm kürte. Dass “Al Murhaqoon” in Berlin aufgeführt und ausgezeichnet wurde, habe eine nicht zu unterschätzende Strahlkraft, sagte Regisseur Gamal. “In den achtziger Jahren gab es in Aden Dutzende Kinos, doch wurden sie alle im Krieg zerstört.” Er hofft, dass diese Kinokultur wieder auflebt: “Dass unsere Filmemacher sagen: ‘Der geht mit seinem Film zur Berlinale und gewinnt Preise. Das kann ich auch.'”


WEITERER FILMTIPP: Die Kraft der Bildung

von Jürgen Kiontke

Armut, Diskriminierung, Klimawandel, Krieg: Auf den aktuellen großen Baustellen der Erde wohnen auch und nicht zuletzt Kinder. Sie wachsen hinein in eine komplizierte Welt, deren Probleme sie künftig lösen müssen. Das Handwerkszeug dafür sollte die Schule bieten – mit überarbeiteten Lehrkräften, wenig Mitteln und in kurzer Zeit.

Wie drei engagierte Pädagoginnen diese Aufgabe auch unter schwierigsten Bedingungen bewältigen, zeigt Emilie Thérond in ihrem Film “Schulen der Welt”. Svetlana im winterlichen Sibirien, Sandrine im ländlichen Burkina Faso und Taslima in der Bootsschule in Bangladesch sind selbst nur kurz für ihren Beruf als Lehrerin ausgebildet worden, werden nicht besonders gut bezahlt und sind monatelang von der eigenen Familie getrennt. Dennoch unterrichten sie ihre Schüler*innen mit vollem Einsatz – weil sie der festen Überzeugung sind, dass Wissen die Welt besser macht.

Sie arbeiten dort, wo der Zugang zu Bildung weitestgehend versperrt ist. Svetlana legt weite Strecken durch den Schnee zurück, teils, um nur einem Kind Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, das darauf womöglich überhaupt keine Lust hat. Auch Sandrine hat weite Wege, allerdings in extremer Hitze. Und in Bangladesch stehen weite Teile des Landes unter Wasser, sodass der Unterricht auf stillgelegten Schiffen stattfinden muss. Wie überall gibt es Diskussionen mit den Eltern: Die Jungen sollen lieber arbeiten, die Mädchen gewinnträchtig verheiratet werden, anstatt zu lernen.

Für Taslima und ihre Kolleginnen ist Bildung aber ein Menschenrecht: “Ich möchte, dass die Frauen das Gleiche lernen wie die Männer, dass sie die gleichen Rechte zugesprochen bekommen.”
Stellvertretend für die Lehrer*innen dieser Welt kämpften die drei “täglich ­darum, ihr Wissen weiterzugeben”, sagt die Regisseurin. Die Bildungsmission als Abenteuer – und ein grandioser Dokumentarfilm.

“Schulen dieser Welt”. F 2019. ­Regie: Emilie Thérond. 

18. Mai 2023